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Das älteste Auge

Wann sind die ersten Augen entstanden und wie funktionierten sie? Die Zoologin Dr. Brigitte Schoenemann erforscht die Fossilien uralter Gliederfüßer (Trilobit). Nun hat sie das bislang älteste Facettenauge bei einem Trilobiten entdeckt. Das steckt voller Überraschungen.

Ein Rüssel mit Zangen, Würmer, die auf Füßen laufen, schwimmende Blätter: Die Meerestiere des Kambriums vor 520 Millionen Jahren sahen eher wie bizarre Prototypen als wie Erfolgsmodelle aus. In dem Erdzeitalter entstanden eine Vielzahl verschiedenster Lebewesen im Meer. »Kambrische Explosion« nennen Wissenschaftler dieses plötzliche biologische Wettrüsten, an dem auch die Trilobiten teilnahmen – Gliederfüßer, die im Gegensatz zu vielen ihrer frühen Mitgeschöpfe zu einem evolutionären Dauerbrenner wurden. 250 Millionen Jahre lang krabbelten die krebsähnlichen Tiere mit dem dreiteiligen Körper (griech. trilobos) durch praktisch alle Ozeane des Planeten, bevor sie ausstarben.

Die Privatdozentin Dr. Brigitte Schoenemann arbeitet seit den 1990er Jahren an der Erforschung von fossilen Trilobiten. Sie ist Tierphysiologin und ihre wissenschaftliche Neugier gilt der Evolution des Sehens. Wie sind die Organe entstanden, die uns heute ein so scharfes und genaues Bild unserer Umwelt geben? Was konnten die frühen Augen abbilden? Kann man anhand der Augen den Lebensraum der Tiere beschreiben?

Blick ins Innere des Auges

Bei vielen fossilen Gliederfüßern erforschte Schoenemann bereits den äußeren Aufbau und berechnete die sogenannten lichtökologischen Habitate, also ob ihr Lebensraum die sonnendurchfluteten seichten Gewässer waren oder die finstere Tiefsee: »Man kann für heutige Tiere aufgrund der Geometrie ihrer Augen berechnen, wie viel Licht die Tiere zum Sehen brauchten. Ich habe diese Verfahren auf die fossilen Augen angepasst«, so Schoenemann.

Als die Zoologin 2015 ein Foto eines sehr alten Trilobiten aus Tallinn (Estland) zugeschickt bekam, machte das 500 Millionen Jahre alte Fossil sie neugierig: »Ein Auge war beschädigt. So konnte man in das Innere schauen. Das schien mir sehr vielversprechend, also haben wir um genauere Fotos gebeten.«

»Bis vor einigen Jahren glaubte man noch, dass man in Fossilien keine Weichteile oder zelluläre Strukturen nachweisen kann, weil nur die äußere Schale, Knochen oder Zähne fossilisieren«, sagt die Tierphysiologin. Möglich wurde in diesem Fall die Fossilisierung der Weichteile durch Bakterien, die sich an den Organen ansetzten und Mineralstoffe hinterließen.

Schmidtiellus reetae nennt sich diese besondere Trilobiten- Art und ist gut 500 Millionen Jahre alt. »Unterhalb dieser Fundschichten gibt es nur noch Spurenfossilien, die Schale der Trilobiten war noch nicht hart genug, um zu fossilisieren«, so Schoenemann.

Mit ihren Kollegen Helje Pärnaste (Tallinn / Estland) und Euan Clarkson (Edinburgh / Schottland) gelang es ihr, die Struktur, und damit auch die Funktionsweise des wohl ältesten bisher gefundenen Facettenauges aufzuklären.

Sehen wie die Trilobiten

Libellen haben sie, Bienen oder Fliegen: Facettenaugen. Sie bestehen aus hunderten oder sogar zehntausenden Einzelaugen, sogenannten Ommatidien. Der Aufbau eines solchen Einzelauges moderner Gliederfüßer besteht aus einer Linse, die das Licht über einen darunterliegenden optischen Kegel auf das Lichtleiterstäbchen (Rhabdom) überträgt. Dort nehmen acht bis neun Sinneszellen die Reize auf und übertragen sie in das Gehirn. »Das Tier hatte im Prinzip ein Auge, das demjenigen entspricht, das heute noch Bienen oder Libellen haben«, erklärt Schoenemann. »Es unterscheidet sich nur dadurch, dass es keinen optischen Apparat besitzt: die Linse fehlt.« Diese entstand erst, als die Trilobiten sich eine weitere Panzerschicht zulegten, aus der dann auch die Linsen entstanden. Das Auge konnte trotzdem sehen, weil im Wasser das Lichtleiterstäbchen ausreicht. »Diese alten Trilobiten besitzen ein typisches Facettenauge, das aus etwa 100 Untereinheiten bestand, die im Vergleich zu modernen Formen relativ weit auseinander standen.«

Ursprüngliches Niveau des Sehens

Das zentrale Lichtleiterstäbchen sorgt durch seine physikalischen Eigenschaften dafür, dass jede Facette nur ein bestimmtes Blickfeld umfängt und dass das insgesamt entstehende Bild, das dieser Trilobit sehen konnte, bereits den mosaikartigen Charakter eines modernen Facettenauges erreicht. Die Genauigkeit eines solchen Auges wird unter anderem durch die Anzahl der Facetten bestimmt, ähnlich, wie Pixel die Genauigkeit einer Computergraphik bestimmen. »Mit etwa 100  Pixeln  ist die Leistung dieses mehr als eine halbe Milliarden Jahre alten Auges nicht sehr exzellent. Sie reichte aber aus, dem Trilobiten Information über Bewegungen innerhalb seines Blickfelds, etwa sich nähernder Fressfeinde, zu vermitteln. Er nahm eine grobe Helligkeitsverteilung in seiner Umwelt wahr, oder wich Hindernissen aus«, erklärt Schoenemann.

In der Kinderstube des Auges

Vielleicht gab es ähnliche Augen schon vorher, mutmaßt Schoenemann. Zum Leidwesen der Tierphysiologin Sind diese aber nicht versteinert. »Die Lage der acht Sinneszellen in einem heute nicht mehr typischen Zellkörbchen ist ein schon recht entwickeltes System. Man muss davon ausgehen, dass auch ältere, nicht fossilisierte Tiere, die wir nicht mehr auffinden können, schon so ein Auge hatten.«

Das Prinzip des modernen Facettenauges sei wahrscheinlich schon vor dem ersten Fossilienbefund entstand. »Es befand sich aber vor einer halben Milliarde Jahre noch quasi in den Kinderschuhen. Mit dieser Arbeit werden wir Zeuge der ersten Schritte dieses so erfolgreichen visuellen Prinzips«, so Schoenemann.

Die Biologin und ihr Team zeigten in ihrer Arbeit ebenfalls bei einem baltischen Trilobiten, Holmia kjerulfi, dass nur wenige Millionen Jahre nach Schmidtiellus schon weiterentwickelte, hochauflösendere Facettenaugen existierten, die denen heutiger Libellen nicht oder nur kaum nachstehen.

Auch die lichtökologischen Habitate ließen sich berechnen. Das Ergebnis für beide Trilobiten: Sie lebten in lichtdurchfluteten Gewässern, wahrscheinlich im küstennahen Schelfbereich eines paläozoischen Ozeans.