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Verkehrswende – ganz praktisch

Grüner Strom aus Wind und Sonne, abgasfreie Elektromobilität, staufreie Innenstädte – wer wollte das nicht. Doch der Umstieg in eine nachhaltige Zukunft ist komplex. Ein Kölner Wirtschaftswissenschaftler hat eine preisgekrönte Lösung für den Elektroverkehr in Rotterdam entwickelt. Ist künstliche Intelligenz der Schlüssel zum Systemwechsel?  

Von Dieter Dürand
 

Um etwas gegen die Erderwärmung zu tun, fasst die niederländische Regierung 2016 einen weitreichenden Beschluss: Bis spätestens 2030 sollen nur noch elektrisch angetriebene Busse im Land der Tulpen verkehren, keine Dieselstinker mehr, die Kohlendioxid (CO2) und andere Treibhausgase in die Atmosphäre blasen.

In Rotterdam, wo Europas größter Seehafen das Stadtbild prägt, begibt sich der örtliche Verkehrsbetreiber RET sofort ans Werk – und stößt rasch an Grenzen.

Bis dahin bestand die Aufgabe vor allem darin, Fahrplan, Routen und Kundenanforderungen unter Berücksichtigung des verfügbaren Fahrzeugparks aufeinander abzustimmen. Nun aber müssen die RET-Manager auch Ladezeit und Kapazität der Batterien berücksichtigen; überlegen, wie viele Ladestationen sie aufstellen; darauf achten, dass diese das örtliche Stromverteilnetz nicht überlasten. Und als wären das nicht schon Variablen genug, sollte zudem möglichst viel Strom getankt werden, wenn Solarpaneele und Windräder ihn gerade ins Netz speisen. Nur dann wäre es wirklich sauber.

Rasch merken die Verantwortlichen, dass die Planung mit den bestehenden Methoden keine befriedigenden Ergebnisse bringt. Hier kommt Wolfgang Ketter ins Spiel, seit Februar 2017 Professor für Informationssysteme und Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) an der Universität zu Köln. Er kam von der Universität Rotterdam, wo er immer noch einmal die Woche forscht und lehrt.

Unsere Art zu wirtschaften umstellen

Ketters Vertrautheit mit der Stadt und sein Forschungsschwerpunkt, virtuelle Marktplätze und komplexe, KI-gestützte Simulationssysteme, machen ihn zum idealen wissenschaftlichen Berater für das Projekt. Sein Team programmiert spezielle Algorithmen. Sie spielen durch, welchen Einfluss die verschiedenen Faktoren auf den elektrischen Alltagsbetrieb haben und was passiert, wenn sie sich ändern. Dann suchen sie in lernenden Schlaufen, mit welcher Strategie die Busse am zuverlässigsten den Fahrplan einhalten – unter der Maßgabe, Ladekosten und die Belastung der Stromnetze zu minimieren.

Es sei nicht weniger als der Sprung in eine die menschliche Auffassungsgabe »extrem strapazierende« Mehrdimensionalität, skizziert Ketter die Herausforderung. Sie besteht darin, unsere Art zu wirtschaften und zu leben von Verschwendung auf Ressourcenschonung sowie Umwelt- und Klimaschutz umzustellen. Mit der Elektrifizierung des Verkehrs müssten Klimaschutz und die Energiewelt, so Ketter, nicht nur zusammen gedacht, sondern auch zusammen optimiert werden. »Sonst stellt sich der erhoffte Fortschritt zu mehr Nachhaltigkeit nicht ein«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler.

Der 48-Jährige bemüht noch ein weiteres Bild: Auf einmal bestehe das Puzzle aus so vielen verwirrenden Teilen, dass Menschen, selbst bei bester Ausbildung, viel zu lange bräuchten, es zusammenzusetzen. »Wir können eben nur linear lernen.«

Der wissenschaftliche und technische Fortschritt entwickle sich aber exponentiell, ebenso wie die Flut an Daten, die er produziert. Beides lasse sich nur mehr mit Hilfe mächtiger, im Eiltempo dazulernender Computersysteme ordnen und analysieren, um am Ende berechnen zu können, welche Lösungen aus diesem riesigen Ozean an Varianten die höchsten, messbar positiven Effekte bringen. »Ohne Rückgriff auf diese Möglichkeiten bekommen wir die Transformation nicht hin«, ist Ketter überzeugt.

Den CO2-Fußabdruck um ein Viertel gesenkt

In Rotterdam haben diese Computersysteme längst ihren praktischen Nutzen bewiesen. Die Algorithmen prüfen zunächst vier Ladestrategien auf deren Leistungsfähigkeit und Alltagstauglichkeit:

Erstens: Die Busse kommen an den Endhaltestellen in der Reihenfolge ihrer Ankunft an die Steckdose (first in, first served).

Zweitens: Vorrang haben jeweils die Busse mit dem niedrigsten Batteriestand (lowest charge, highest priority).

Drittens: Zerlegt in Takte von einer Minute entscheidet das System zeitabhängig, wo und wann jeder einzelne Bus am besten aufgetankt wird (discrete time optimization model).

Viertens: Abhängig von der tatsächlichen Ankunft und Abfahrt der Fahrzeuge bestimmt es ereignisorientiert die optimalen Ladezeiten (discrete event optimization model).

Am Ende zeige sich, dass letztere Strategie die Zielvorgabe am besten erfüllt. Sie reduziert die Ladekosten, errechnet aus den Preisen für jede Kilowattstunde, um 16,5 Prozent und nimmt im gleichen Umfang auch das Stromnetz weniger in Anspruch. Füttert man das Programm zudem stetig mit aktuellen Daten etwa über das Wetter, Staus und Störungen am Bus, erzielen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit Bestwerte, und die Rotterdamer Verkehrsbetriebe mussten weniger Ladestationen bauen.

Auf Grundlage der Computermodelle bedienen seit 2019 inzwischen 55 E-Busse im Norden der Stadt die einzelnen Linien. Der Süden soll demnächst folgen. Die RET konnte ihren CO2-Fußabdruck durch die intelligente Elektrifizierung unter Einbeziehung erneuerbarer Energiequellen schon um rund ein Viertel senken. Selten lässt sich der Erfolg von Forschung so unmittelbar ablesen.

Der hat sich mittlerweile herumgesprochen. Inzwischen suchen mit Parma, Danzig, Glasgow und Hamburg weitere europäische Städte, die ihre Busflotten elektrisieren wollen, Ketters Expertise. Und auch die Fachwelt ist beeindruckt. Gerade erst hat die angesehene Gesellschaft für Operations Research und Management-Wissenschaft (INFORMS) Ketters Team für das Rotterdam- Projekt einen Preis verliehen. Es habe auf Basis von Grundlagenforschung nicht nur eine gewichtige Lösung für eine akute gesellschaftliche Herausforderung geliefert, sondern auch aktiv geholfen, sie erfolgreich zu implementieren, begründet die Jury ihre Wahl.

Intelligente Apps sollen Entscheidungen steuern

Weder Ketters Nähe zur Praxis, noch sein Faible für umweltrelevante Forschung kommen von ungefähr. Sie wurden ihm quasi in die Wiege gelegt. Geboren in Kröv, einem Mosel-Örtchen unweit von Trier und bekannt für seinen Riesling »Kröver Nacktarsch «, sensibilisierte ihn sein Vater, ein Bau-Ingenieur und Winzer, von Kindesbeinen dafür »im Einklang mit der Natur zu leben «, erzählt er. Die frühkindliche Prägung hat sich in seinen Genen festgesetzt – beruflich wie privat.

In Bonn bewohnt Ketter mit Frau und Kindern ein Energiesparhaus. Er fährt Elektroauto und lebt nach dem Motto: Weniger fliegen, weniger kaufen, möglichst Vieles neu nutzen, anstatt es wegzuschmeißen. Seine große Sorge ist, dass wir die Ressourcen des Planeten mit unserer gegenwärtigen Lebens- und Wirtschaftsweise überbeanspruchen. »Ich möchte, dass mein Sohn und meine Tochter ohne Angst vor der Zukunft aufwachsen können.« Aus diesem Ziel schöpft er Motivation und Kraft.

Das Thema, das ihn momentan am meisten umtreibt, ist die Umsetzung der Energie- und Verkehrswende, sodass sie Umwelt und Klima tatsächlich wirksam und dauerhaft entlastet. Ketter hat eine klare Vorstellung, wie die Jahrhundert-Transformation gelingen kann: Intelligente Software- Agenten, installiert als Apps oder auf großen digitalen Plattformen, koordinieren die Entscheidungen vieler Tausender Einzelakteure zu einem vorteilhaften Ganzen für alle. »Ohne eine weitgehende Automatisierung der maßgeblichen Prozesse lässt sich das nicht schaffen«, sagt er.

Denn in einer Welt, in der Wind- und Solarkraftwerke den Großteil des Stroms erzeugen sollen zum Schutz des Klimas, ist nichts mehr wie vorher. Das grundlegend Neue: Deren Leistung schwankt ständig, je nachdem, ob zum Beispiel gerade Wolken vorbeiziehen oder Böen übers Land fegen, ob es Tag oder Nacht ist – im Extremfall von hundert auf null in wenigen Sekunden. Doch die Stromnetzfrequenz muss immer stabil sein, sonst brechen die Leitungen zusammen – der gefürchtete Blackout.

Weniger Netzausbau durch Investitionen in IT

In der alten Energiewelt passt eine überschaubare Zahl von Stromerzeugern die gut regelbare Leistung ihrer Kohle- und Gaskraftwerke an die jeweilige Nachfrage von Industrie und Verbrauchern an. Diese folgt zumeist einem gut bekannten Muster. Eine relativ leichte Übung.

In der neuen Energiewelt funktioniert das nicht mehr. Das liegt nicht nur an der Volatilität der Erneuerbaren. Es kommt erschwerend hinzu, dass sich immer mehr Verbraucher Fotovoltaik-Anlagen aufs Dach setzen und mithin selbst zu Stromproduzenten werden, zu sogenannten »Prosumenten«. Das Anbieterfeld wächst also unaufhörlich. Und wenn bis 2030, so wie die Bundesregierung es plant, zehn Millionen Elektroautos zugelassen sind, droht laut Ketter ohne eine Automatisierung der Abstimmungsprozesse das Chaos. Zumindest werde die Sicherstellung stabiler Stromnetze zum ständigen Nervenspiel.

Prosumenten – Der Begriff geht zurück auf den englischen Begriff »prosumer« und beschreibt eine Verbindung von Nutzung und (Weiter-) Entwicklung eines Produkts. Auch das Recyceln ist ein Beispiel, da es die Wiedernutzung von Verpackungen und Altpapier ermöglicht. Der Begriff geht auf den Zukunftsforscher und Berater Alvin Toffler zurück.

Der Grund: Würden zum Beispiel ein große Zahl E-Auto-Besitzer zum Feierabend gleichzeitig auf die Idee kommen, die Akkus ihrer Steckerfahrzeuge für den nächsten Morgen zu laden, kämen die Netze wegen ihrer begrenzten Kapazität damit nicht zurecht und wären überlastet.

Ketters intelligente Agenten würden eine solche Gefahr verhindern. Sie studieren die Gewohnheiten der E-Auto-Fahrer, kennen ihre üblichen Fahrtstrecken und ihre täglichen Termine. Auf Basis all dieser Informationen füllen sie die Batterien bevorzugt dann mit Strom, wenn das Angebot groß und er dementsprechend billig ist. Umgekehrt erlauben sie den Netzbetreibern bei Knappheit ein fixiertes Quantum an elektrischer Energie aus den Akkus zu entnehmen, um Nachfrage und Angebot auszugleichen.

»Wir brauchen ganz neue Marktdesigns«, resümiert Ketter. Und der Professor hat auf Grundlage seiner vielen Projekte schon überschlagen, welchen ökonomischen Vorteil die Digitalisierung bringt. Ein Ergebnis: »Jeder in IT investierte Euro erspart rund fünf Euro beim Stromnetzausbau, weil der viel kleiner ausfallen kann.« Es ist also besser, in Software statt Kupferkabel zu investieren.

Da ist er wieder – der praktische Nutzen. Er stellt sich auch für die Betreiber von Carsharing- Flotten ein, wenn sie die Batterien ihrer Fahrzeuge gegen Entgelt den Stromnetzbetreibern als Speicher zur Verfügung stellen, um Schwankungen auszugleichen. Lukrative Zusatzgeschäfte winken. Für Städte wie Stuttgart, San Diego und Amsterdam haben Ketters schlaue Algorithmen das in Szenarien ermittelt: Rund sieben bis 12 Prozent Extragewinne springen heraus.

Agenten mit Lizenz zum Klimaretten

Seine zukunftsweisenden, handfesten Lösungsansätze machen Ketter zu einem gefragten Experten. Er berät die Bundesregierung ebenso wie die EU-Kommission und die NRW-Landesregierung. Der globale Zukunftsrat des Weltwirtschaftsforums in Davos hat ihn zum Chefautor eines spätestens im Mai erscheinenden Berichts bestellt. Thema: Wie können Wirtschaft und Industrie die Wende zu einer kohlenstoffarmen Energieversorgung und Mobilität kooperativ zügig voranbringen, natürlich unter Zuhilfenahme von Künstlicher Intelligenz. Auch Konzerne wie Daimler, Siemens, BMW und Uber greifen gern auf Ketters Wissen und Erfahrung zurück.

Rettet James Bond die Welt vor Schurken, stehen Ketters Agenten im Dienste einer lebenswerten Zukunft. Ein aktuelles Projekt, das den Forscher gerade viel beschäftigt, führt ins Jahr 2035. Der Strom fließt aus sauberen Quellen, der Verkehr elektrisch. Doch der Austausch der Antriebsart führe nicht automatisch zu weniger Staus und weniger Parkplatznot, sagt der Forscher. Es sei denn, der Autobestand sinke deutlich und Verkehrsströme würden intelligent koordiniert.

Ketters Ansatz: Mehr Menschen teilen sich Autos und nehmen jeweils das Verkehrsmittel, das sie am schnellsten und zu den geringsten Kosten ans Ziel bringt. Das kann mal das Fahrrad, mal Bus und Bahn, mal das Auto sein. Die Aufgabe übernimmt der Agent auf dem Smartphone. Er fischt alle notwendigen Informationen aus dem Datennetz – Fahrpläne, Verkehrslage, Wetterprognosen, Parkplatzsituation – wertet sie aus und macht einen Vorschlag. Nimmt der Nutzer ihn an, koordiniert er diesen Plan über eine Plattform mit allen anderen Verkehrsteilnehmern.

Läuft das nicht auf eine gewisse Entmündigung hinaus? Ketter lacht. Darüber müsse sich niemand sorgen. Der KI-Agent mache ja nur Vorschläge, die der Mensch nicht akzeptieren müsse. Auch daraus lerne das Assistenzsystem. »Wir bleiben Herr unserer Entscheidungen«, beruhigt er.


Professor Dr. Wolfgang Ketter hat in Trier und an der University of Minnesota Nachrichtentechnik, BWL, VWL und Softwareentwicklung studiert. Er promovierte über Künstliche Intelligenz (KI) und Informationssysteme, bevor er 2007 an die Rotterdam School of Management (RSM) der Erasmus Universität wechselte. An der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität zu Köln liegen seine Arbeitsschwerpunkte auf Big Data Analytics, Informatik und Managementwissenschaften, Energiewirtschaft und -politik, Informationssysteme (IS), Maschinelles Lernen und Nachhaltigkeit.

Shared mobility und öffentlichen Nahverkehr In Köln und Bonn koordinieren
Um den städtischen Verkehr der Zukunft zu gestalten, beteiligt sich der Lehrstuhl für Information Systems for Sustainable Society von Professor Ketter am Verbundprojekt MIAAS (Mobility Intelligence as a Service). Das Projekt wird im Rahmen der Forschungsinitiative mFUND des Bundesministeriums für Verkehr und Digitale Infrastruktur (BMVI) mit insgesamt 1,8 Millionen Euro gefördert. Davon erhält die Universität zu Köln 228.840,00 Euro.

Über einen Zeitraum von drei Jahren entwickeln die Projektpartner eine europäische Open-Source-Plattform zur Entscheidungsfindung mit Mobilitätsdaten. Die Plattform wird in Echtzeit Shared-Mobility- und ÖPNV-Daten zusammenbringen und Informationen daraus gewinnen. Ziel ist es, Shared Mobility (zum Beispiel Car Sharing oder Mitfahrgelegenheiten für Kurzstrecken) gemeinsam mit dem ÖPNV in eine urbane Mobilitätsstrategie zu integrieren und so den städtischen Verkehr zu optimieren. Das soll den innerstädtischen Verkehr entlasten und Staus sowie Treibstoffausstoß verringern.

Ein weiteres Ziel ist die Erforschung und Entwicklung der benötigten technischen Infrastruktur und entsprechender Schnittstellen. Dazu entwickelt MIAAS ein Mobility-Intelligence-Dashboard, das das Mobilitätsgeschehen standardisiert und in Echtzeit visualisiert und vorhersagt sowie automatisierte Handlungsempfehlungen generiert. Auf dieser Grundlage können beispielsweise Verkehrsbetriebe genaue Nutzungsmuster von Shared-Mobility-Angeboten analysieren und die Verzahnung mit dem öffentlichen Nahverkehr optimieren.

Das erweiterte Projektkonsortium setzt sich aus einem interdisziplinären Team aus Praxispartnern und Fachleuten aus der Wissenschaft zusammen. Neben der Kölner Verkehrs-Betriebe AG (KVB) und der Stadtwerke Bonn Verkehrs-GmbH (SWB) sind auch die beiden IT-Startups open.INC UG und highQ Computerlösungen GmbH beteiligt. Von akademischer Seite begleiten die Universität zu Köln sowie die Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) das Vorhaben.