Zuweilen erreichen uns eigentümliche Themen, die in der Redaktion so manches »Aah« oder »Ooh« auslösen. Diesmal geht es um eine nicht ganz so angenehme Umarmung von Amöben.
Von Mathias Martin
Immer enger umfließen ihre Arme das Bakterium, bis es für die Beute kein Entrinnen mehr gibt. Eine Umarmung kann herzlich sein, bei einer Amöbe ist sie es aber definitiv nicht. Amöben sind einzellige Mikroorganismen, etwa so groß wie kleine Sandkörner. Sie besitzen einen Körper aus weichem Zellplasma mit einem Zellkern, der die Erbinformationen enthält.
Amöben sind wahre Verwandlungskünstlerinnen. Sie können bei Bedarf Arme, die sogenannten Scheinfüßchen, an jeder Stelle des Körpers ausstülpen und dadurch ständig ihre Form ändern. Sie nutzen die Scheinfüßchen, um Beute zu fangen und um sich langsam fortzubewegen. Auf ihrem Speiseplan stehen Kleinorganismen wie Bakterien, Pilze und Algen sowie abgestorbene Tier- und Pflanzenzellen.
Im Reich der Amöben sind allerdings nicht alle gleich. Es gibt da noch die anderen, die weniger beweglichen, die scheinbar benachteiligten: Schalenamöben. Bei Schalenamöben, die überwiegend im Süßwasser und in feuchten Böden und Moosen vorkommen, ist der weiche Plasmakörper – Sie erraten es – von einer Schale umgeben. Ihre Gehäuse, die individuell unterschiedlich gestaltet und oftmals wahre Kunstwerke sind, bauen sich die Amöben aus Kieselsäure, winzigen Sandkristallen und anderen Baumaterialien aus ihrer Umgebung selbst. Das Gehäuse schränkt die Amöbe jedoch in ihrer Beweglichkeit ein, es ist nur auf einer Seite geöffnet. Nur über diese Öffnung kann die Amöbe an Nahrung gelangen – ein Nachteil gegenüber den Amöben ohne Schale, die ihre Scheinfüßchen in alle Richtungen ausstrecken können.
Bislang ging die Wissenschaft davon aus, dass die Schale der Amöbe lediglich als Schutz dient. Wenn die Umgebung nicht mehr ihren Ansprüchen genügt, beispielsweise, weil es zu trocken ist, kringeln sich Amöben in ihrem Gehäuse ein, verfallen in eine Art Dauerstarre und erwachen erst wieder zum Leben, wenn sich die Welt um sie herum gebessert hat.
Der Zoologe Privatdozent Dr. Kenneth Dumack hat jedoch in Mikroskop-Aufnahmen von Arcellinida-Amöben beobachtet, dass die Amöben ihre Schale auch gezielt als räuberische Waffe einsetzen, um an Nahrung zu gelangen. Zusammen mit einem internationalen Forschungsteam hat Dumack herausgefunden, dass die Arcellinida ihre Schale und ihr Zytoskelett nutzen, um die Beute an der Wand der Gehäuseöffnung unter Hebelwirkung zu brechen. Eine Amöbe kann dadurch Beute überwältigen, die größer als sie selbst ist.
Vielleicht ist die Schalenamöbe gegenüber ihren schalenlosen Kolleginnen letztlich doch nicht so benachteiligt, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die Forschenden verbinden mit den neuen Erkenntnissen jedenfalls die Hoffnung, dass die Entschlüsselung dieses spannenden Angriffsmechanismus in Zukunft zur Entwicklung von speziell zugeschnittenen mikrobiellen Waffen in der Anwendung von Technik und Medizin ihren Nutzen findet.