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Medizin für alle Menschen

Dr. med. Amma Yeboah über Gender und Gesundheit

Amma Yeboah ist für ein Jahr Gastdozentin für Gender und Gesundheitsverhalten an der Universität. Angehende Ärztinnen und Ärzte lernen in ihren Lehrveranstaltungen, warum sie nicht alle Patienten gleich behandeln sollten – und bekommen kritische Einblicke in die Wissensgeschichte der Medizin.

Text von Eva Schissler

Dreizehn Jahre klinische Tätigkeit liegen hinter Dr. med. Amma Yeboah, zuletzt an einer Fachklinik für Frauen zur psychiatrischen, psychosomatischen und psychotherapeutischen Rehabilitation. Doch in der Hektik des Klinikalltags fehlt der Raum für Reflektion medizinischer Theorien. Deshalb verbringt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie einen Sabbatical an der Kölner Universität: vom Sommersemester 2019 bis zum Wintersemester 2019/2020 ist Yeboah Gastdozentin für Gender und Queer Studies. Schwerpunkt der Gastdozentur ist das Verständnis von Geschlecht in der medizinischen Praxis und die Erkenntnisse der Gendermedizin.

»Die Entstehung, die Symptome und der Verlauf vieler Krankheiten unterscheiden sich zum Teil erheblich unter den Geschlechtern – und erfordern daher verschiedene Behandlungsoptionen«, sagt Yeboah. An der Universität hat sie den Freiraum, in diesem Bereich neue medizinische Forschungsfragen zu entwickeln. Zu der Gastdozentur motiviert hat sie auch der Wunsch nach Wissensaustausch – mit Forscherinnen und Forschern, aber auch mit Studierenden aus unterschiedlichen Fächern.

In ihren Seminaren vermittelt sie den Kölner Studierenden geschlechtsspezifische Aspekte von Gesundheit und sensibilisiert sie für andere relevante soziale Umstände, wie etwa die gesundheitlichen Folgen von Rassismus. Auf die Chromosomen kommt es an Die Gendermedizin ist eine relativ neue Fachrichtung, die international seit Jahren an Bedeutung gewinnt. Ihren Ursprung hat sie in der Frauenrechtsbewegung der 1970er und der Frauengesundheitsforschung der 1980er Jahre. Auch die Kardiologie trug viel zur Entstehung dieser Fachrichtung bei, denn Herzinfarkte zeigen sich bei Männern und Frauen unterschiedlich. Darüber hinaus wirken Medikamente je nach Geschlecht oft ganz anders.

In der Vergangenheit wurden klinische Studien zur Wirksamkeit von Medikamenten jedoch teilweise nur an männlichen Probanden durchgeführt – ein erheblicher Nachteil für die später damit behandelten Patientinnen. Das hat sich mittlerweile geändert. Laut Gesetz müssen Medikamente, die für Männer und Frauen zugelassen werden, auch an beiden Geschlechtern getestet werden.

Bei der Gendermedizin gehe es jedoch nicht nur um Unterschiede zwischen Männern und Frauen, sondern auch um die biologische Geschlechtervielfalt, die kaum erforscht ist. »Heute wissen wir, dass der Übergang zwischen männlich und weiblich fließend ist«, sagt Amma Yeboah. »Es gibt viele Kombinationsmöglichkeiten der unterschiedlichen Merkmale, die wir mit Geschlecht in Verbindung bringen: Chromosomen, Keimdrüsen, Organe, Hormone, Gewebe, Zellen. Wir haben noch lange nicht genau definiert, wie viele es tatsächlich sind.«

Da der Chromosomensatz in allen Zellen des menschlichen Körpers vorhanden ist, macht er beispielsweise bei der Wirkungsweise von Medikamenten durchaus einen Unterschied.

Angehende Ärzte und Ärztinnen schon im Studium für medizinisch relevante Geschlechterunterschiede zu sensibilisieren – darin sieht Yeboah eine wichtige Aufgabe. Doch die Gendermedizin sei an vielen deutschen Universitäten noch nicht genug in die Lehre integriert.

Geschlecht in der psychiatrischen Praxis

In ihrer eigenen therapeutischen Tätigkeit wurde Amma Yeboah deutlich, dass das Geschlecht offenbar auch die Diagnosestellung beeinflusst: Sie berichtet von ihrer Beobachtung, dass bei weiblichen Personen zum Beispiel schneller als bei Männern eine depressive Störung diagnostiziert wird.

»Das hat mit der eigenen primären Sozialisierung zu tun«, sagt die Psychiaterin. »Symptome wie gedrückte Stimmung, Traurigkeit oder häufiges Weinen assoziiert die Gesellschaft eher mit Frauen. Bei männlichen Personen nehmen wir diese Symptome nicht auf die gleiche Weise wahr.« Die soziale Erwartung, wie Männlichkeit oder Weiblichkeit sich emotional ausdrücken, beeinflusst also auch die ärztliche Interpretation von Beschwerden. Über diese Erfahrungen reden Ärztinnen und Ärzte zwar beim Mittagessen.

Doch die enge Taktung des klinischen Alltags mache eine systematische Reflektion dieser geschlechtsspezifischen Erfahrungen kaum möglich. »Wir schaffen einfach keinen Raum dafür «, meint Yeboah. »Deshalb ist die Gastdozentur hier an der Uni Köln für mich ein ideales Umfeld, um das Thema Gendermedizin tiefer zu erforschen und auf seine Relevanz in der medizinischen Praxis hinzuweisen.

Hysterie und Widerstand

Historisch hat die geschlechterspezifische Diagnosestellung besonders in der Psychiatrie eine lange Tradition – und wurde allzu oft missbraucht. Frauen waren bereits im frühen 19. Jahrhundert ein wichtiges Subjekt psychiatrischen Interesses.

»Frauenkörper und Frauenpsychen wurden pathologisiert. Besonders, wenn Frauen sich weigerten, die ihnen vorgeschriebenen sozialen Rollen zu erfüllen«, sagt Yeboah. Hierfür ist die Diagnose »Hysterie« ein Paradebeispiel. Aus dem altgriechischen Wort für Gebärmutter entlehnt, bezeichnete Hysterie einen »übermäßigen Geltungsdrang und Egozentrismus« bei Frauen.

Hysterie ist mittlerweile zwar aus den diagnostischen Klassifikationssystemen verschwunden, doch es fehle in der Medizin an einer systematischen Aufarbeitung der enormen Macht der Psychiatrie, so Yeboah: »Wir brauchen eine kritische Befassung mit der Kategorisierung von Krankheiten in der Medizin allgemein, und vor allem in der Psychiatrie. Die heutigen Klassifikationssysteme sind nur sinnhaft, wenn wir ihren historischen und kulturellen Kontext mit bedenken.«

Die Geschichte der Psychiatrie kann Yeboah zufolge ebenso wenig ohne die Kolonialgeschichte gedacht werden. Denn es waren nicht nur Frauen, die historisch zu Subjekten medizinischer Pathologisierung wurden. Auch in den Kolonien diente die Psychiatrie den europäischen Eroberern als Herrschaftsinstrument. Widerständiges Verhalten als psychisch krank zu deuten, legitimierte die Entmündigung und Unterdrückung der kolonialisierten Subjekte. »Rassismus und Psychiatrie sowie Sexismus und Psychiatrie sind nicht auseinanderzudividieren«, macht Yeboah deutlich.

Die sozialen Umstände psychischer Gesundheit

Heute haben die Nachkommen der ehemals kolonialisierten Menschen weltweit ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken. Das habe mit intergenerationaler Traumatisierung, aber auch mit andauernder Benachteiligung zu tun. Nicht-weiße Menschen – oder »people of color« – haben in vielen Ländern einen schlechteren Zugang zu Bildung, beruflichen Chancen und wirtschaftlichen Ressourcen.

Dazu kommt der erlebte Alltagsrassismus. Das alles erhöhe das Risiko, psychisch und körperlich zu erkranken. Internationale Studien zeigen, dass auch der Zugang zum Gesundheitssystem für die Betroffenen oft erschwert ist. »Im deutschen Kontext beschäftigen wir uns in der Humanmedizin nicht so sehr mit sozialen Aspekten des Menschseins«, sagt Yeboah. In den vergangenen Jahren erschienen immerhin Studien über den Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und sozioökonomischem Status.

Mit dem Fazit: Unter schlechten sozialen Bedingungen erkranken Menschen häufiger an Schizophrenie und leiden eher an Depressionen und psychosomatischen Beschwerden. »Aber Geschlecht und Erfahrungen von Rassismus sind hierzulande als eigenständige Risikofaktoren noch zu wenig erforscht«, sagt Yeboah.

Wissen erweitern, Kompetenzen schaffen

Die Stagnation der medizinischen Forschung in Bezug auf Geschlecht und andere soziale Kategorien sieht Yeboah vor allem in der Tradition von Wissen und Wissenschaft begründet. Sie meint: »Diese Themen werden nicht als relevant erkannt, weil Forschung an Lehrstühle gekoppelt ist und Forschungsfragen an bereits publizierte Forschungsthemen.« In Deutschland gibt es lediglich an der Berliner Charité ein Institut für Geschlechterforschung in der Medizin mit entsprechenden Lehrstühlen.

Doch wenn Gendermedizin nicht systematisch gelehrt wird, entstehe kaum ärztliche Kompetenz in diesem wichtigen Bereich. Die Psychiaterin zieht gegen Ende ihres Sabbaticals dennoch ein positives Fazit: »Ich blicke optimistisch in die Zukunft, denn das Interesse an diesen Themen wächst – vor allem unter den Studierenden, den zukünftigen Forscherinnen und Forschern. Sie müssen in einer globalisierten Welt eine dem Menschen zugewandte Medizin praktizieren.«

 

Zur Person:
Dr. med. Amma Yeboah ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie psychiatrische Fachgutachterin mit Schwerpunkt psychische Erkrankungen und Fluchterfahrung. Sie hat Zusatzqualifizierungen als Supervisorin und Coach und gehört zum Vorstand von Phoenix e.V. Ihre Forschungsinteressen umfassen Gesundheit und Geschlecht, geschlechtsspezifische Versorgung, Rassismus und psychische Gesundheit, Intersektionalität und Gesundheit sowie Traumafolgestörungen.

Gendermedizin – Seit den 1990er Jahren beschäftigt sich dieser Zweig der Humanmedizin mit sozialen Aspekten wie Geschlechter-identität und Rollenzuschreibungen in der Medizin, aber auch mit Fragen von biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern bei der Entstehung, dem Verlauf und der Behandlung von Erkrankungen.

Lehre – Die Medizinische Fakultät bietet ein Wahlpflichtfach zu Gendermedizin an: https://medfak.uni-koeln.de/19688.html Am Universitätsklinikum forscht und lehrt Professorin Dr. Elke Kalbe zu Medizinischer Psychologie sowie Neurologie & Gender Studies: medizinische-psychologie.uk-koeln.de

Internationale Studien – Die aktuelle Studie »Racism and Health: Evidence and Needed Research« von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Harvard und Cape Town in der Zeitschrift Annual Review of Public Health plädiert für mehr Forschung zum Thema.